“Die Wahrheit kann nicht verändert werden!”

Sie ist klein und zierlich. Wie eine Kämpferin wirkt sie trotzdem. Dr. Marina Marcovich, ehemals Neonatologin am inzwischen geschlossenen Mautner Markhofschen Kinderspital und mittlerweile niedergelassene Kinderärztin in Wien hat nichts von ihrer Energie verloren. 15 Jahre nach dem „Skandal” um die engagierte Neonatologin blickt Marcovich ohne Bitterkeit auf die Ereignisse um 1992 zurück.

marcovich-marina-dr-buchcover-151107Was war der Auslöser zur Entwicklung ihres Konzeptes der „sanften Neonatologie”?

Marcovich: Als ich begonnen habe, war den Eltern der Kontakt zu ihren Frühchen untersagt. Ich habe die Türen aufgemacht – gegen die massiven Befürchtungen der Kollegen. Die Eltern durften die Station betreten und ihre Kleinen berühren. Das war damals ein Tabubruch.

Welche Veränderungen haben Sie gemeinsam mit Ihrem Team eingeführt?

Marcovich: Über die Schwestern haben wir herausgefunden, dass sich die Frühchen in einem gepolsterten Nest mit geringer Beleuchtung und möglichst großer Ruhe viel wohler fühlen. Für mich war auch selbstverständlich, dass jeder Herzmonitor bei jedem Herzschlag einen Piepston von sich geben muss. Bei genügend Achtsamkeit geht es auch ohne die Piepserei. Auch darauf haben mich die Schwestern aufmerksam gemacht.

Und was hat das bei den Frühchen bewirkt?

Marcovich: Plötzlich haben wir gesehen, wenn wir den Kindern Ruhe lassen und Zeit geben nach der Geburt, fangen viele auch mit 600 Gramm an, selbstständig zu atmen, wie ein ganz normales Vier-Kilo-Kind. Oft reichte zur ausreichenden Sauerstoffversorgung ein bisschen Unterstützung durch die Maske, die dem Baby nur hingehalten wurde. Und obwohl es hieß, so kleine Frühgeborene können nicht saugen, haben wir bei sehr vielen Frühgeborenen gesehen: Sie können es doch. Wir haben auch die Eltern sehr stark in unsere Arbeit miteinbezogen. Wir haben ihnen ihre Babies auf die Brust gelegt, haben sie dabei unterstützt, ihr Kind selbst zu füttern, zu wickeln, zu streicheln.

Wann haben Sie das Konzept der sanften Neonatologie der Öffentlichkeit vorgestellt?

Marcovich: Das war am 5. März 1992, anlässlich der Emeritierungssitzung meines Chefs, Prof. Dr. Alfred Rosenkranz im Haus der Ärzte in Wien. Ich habe berichtet, wie stark diese Frühchen sein können und wie viel und wie schnell sie lernen. Ich dachte mir ganz naiv, alle werden jetzt applaudieren und werden sagen, die Kinder sind toll. Und ich war dann sehr erstaunt, als plötzlich schrille Pfiffe gekommen sind und Rufe wie „Aufhören!”, „Buh!” Das war schlimm.

Was geschah nach der Vorstellung Ihres Konzeptes?

Marcovich: Ich wurde bei der Staatsanwaltschaft wegen des ungeklärten Todes von 16 Frühgeborenen angezeigt und suspendiert. Der bestellte Gutachter, Prof. Dr. Frank Pohlandt, aus Ulm hat mir sämtliche Todesfälle des zweiten Halbjahres 1993 angekreidet. In seinem Gutachten hat er geschrieben, die Kinder hätten alle überleben können, wenn ich sie ordentlich behandelt hätte. Im Abendprogramm des Fernsehens war an diesem Abend zu hören, dass ich eine 16fache Mörderin und Totschlägerin sei.

Die Demontage der Neonatologin erfolgte rasch: Sie wurde noch 1993 vom Mautner Markhofschen Kinderspital abgezogen und ans Wilhelminenspital auf die Kinderabteilung versetzt, wo sie als Kinderärztin tätig sein durfte. Wie substanzlos die Vorwürfe waren, die gegen sie gerichtet wurden, zeigte das Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft: Der Vorwurf der Tötung von zehn Kindern wurde innerhalb weniger Wochen nach der Anzeige wieder fallen gelassen. Sechs Fälle wurden weiter verfolgt. Es sollte weitere drei Jahre dauern, bis auch dieses Verfahren ergebnislos eingestellt wurde. Aber auch dann hörten die Diskussionen nicht auf. Das Mautner Markhofsche Kinderspital wurde 1998 endgültig geschlossen. Marina Marcovich resignierte nicht.
Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie nun als niedergelassene Kinderärztin in Wien und blickt ohne Groll zurück auf die Zeit der „Hexenjagd”, die auf sie veranstaltet wurde. Nicht mehr als Neonatologin arbeiten zu können, tut ihr nicht leid:

Marcovich: Es war jeden Tag schön, an dem ich als Neonatologin arbeiten durfte. Die Zeit dort (im Mautner Markhofschen Kinderspital. Anm.) war schön. Das wesentliche im Leben ist, dass man das was man tut gern, mit Engagement, Liebe, Rufe Achtsamkeit und Sorgfalt tut. Und so gut man es kann. Martin Luther King hat das gesagt: „Und wenn du Straßenkehrer bist, schau, dass deine Straße die sauberste ist.” Ich sehe das so: Ich muss dankbar dafür sein, dass ich so etwas erfahren durfte, dass ich so viel von den Kindern lernen durfte.
Das Gespräch führte Sabine Fisch.

Chronologie der Ereignisse:
1974: Prof. Dr. Alfred Rosenkranz gründet an der Kinderklinik Glanzing in Wien die erste neonatologische Intensivstation in Österreich
1976: Dr. Marina Marcovich schließt ihr Medizinstudium ab und beginnt bei Prof. Rosenkranz die Ausbildung zur Kinderärztin.
1981: Marcovich wird in den Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Prä- und perinatale Medizin berufen
1984: Marcovich beendet ihre Ausbildung und beginnt am Mautner Markhofschen Kinderspital mit dem Aufbau einer neonatologischen Intensivstation
1992: Vorstellung des Konzepts der „sanften Neonatologie” durch Dr. Marcovich, anlässlich der Emeritierungssitzung von Prof. Dr. Alfred Rosenkranz im Wiener Haus der Ärzte
1993: Sachverhaltsdarstellung von Prof. Dr. Kurt Widhalm (damals ärztlicher Leiter des Mautner Markhofschen Kinderspitals) an die Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf: Dr. Marina Marcovich sei für den Tod von frühgeborenen Vierlingen verantwortlich.
1994: Einleitung eines Strafverfahrens gegen Marcovich wegen fahrlässiger Tötung von 16 Frühgeborenen
1994: Versetzung von Marcovich an die interne Kinderabteilung des Wilhelminenspitals in Wien
März 1996: In einer anonymen Anzeige an die Staatsanwaltschaft Wien wird Marcovich der Tod von weiteren 17 Frühgeborenen vorgeworfen.
Dezember 1996: Einstellung des laufenden Verfahrens wegen 16 Todesfällen gegen Marina Marcovich. In keinem Fall wurde Anklage erhoben.
Mai 1997: Auch das aufgrund einer anonymen Anzeige eingeleitete Verfahren wegen 17 ungeklärter Todesfälle wird ohne Anklageerhebung eingestellt.
Oktober 1997: Marina Marcovich soll als Oberärztin an der neonatologischen Station des SMZ-Ost in Wien, allerdings nicht stationsführend, tätig werden. Sie lehnt das Angebot ab.
1998: Das Mautner Markhofsche Kinderspital schließt seine Pforten.
Februar 1999: Die Kinderklinik Glanzing wird Teil des Wiener Wilhelminenspitals
seit 1997: Dr. Marina Marcovich gilt nach der Einstellung sämtlicher Verfahren als rehabilitiert. Sie war seit dieser Zeit nicht mehr als Neonatologin tätig, sondern arbeitet seit damals als niedergelassene Kinderärztin in Wien.