„Der Tod hat mir noch niemals Angst gemacht!“

Bereits im Kindesalter wollte Andrea Berzlanovich Gerichtsmedizinerin werden.
Diesen Wunsch hat sie auch durchgezogen, trotz aller Schwierigkeiten einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Als erste Frau in der 206jährigen Geschichte des Wiener Departments für Gerichtliche Medizin hat sie sich 2005 habilitiert – und am Münchner Rechtsmedizinischen Institut mit mehreren Studien für Aufsehen gesorgt.

Im zweiten Teil unserer Serie „Große Frauen in der Medizin” berichtet Prof. Dr. Andrea Berzlanovich im Gespräch mit Sabine Fisch, warum Sie sich so ungewöhnlich früh für Gerichtsmedizin begeisterte, wie sie Steine aus ihrem Karriereweg räumte und warum sie vor allem die forensische Gerontologie so interessiert.

Wann haben Sie sich dazu entschlossen, Ärztin zu werden?

Berzlanovich: Im Vorschulalter war mir klar: Ich will Gerichtsmedizinerin werden. Meine Eltern waren mit einem Pathologenehepaar befreundet, deren berufliche Tätigkeit mich schon als kleines Kind fasziniert hat. Ich bin auf dem Land groß geworden, wo das Sterben noch viel eher ein Teil des Lebens ist, als in der Großstadt. Meine Eltern haben mich immer in meinen beruflichen Plänen unterstützt. Für sie war es wichtig, dass ich einen Beruf erlerne, der mir Freude macht. Sie haben nie gesagt – Um Gottes Willen Kind – Gerichtsmedizin? Meine Volksschullehrerin dagegen, war schockiert, als ich in der vierten Klasse – befragt nach meinem Berufswunsch – antwortete: Ich möchte Gerichtsmedizinerin werden.

Gab es während des Studiums keine anderen Fächer, die Sie interessierten?

Berzlanovich: Ich fand keines der Fächer uninteressant, aber am meisten beeindruckt war ich von der Gerichtsmedizin. Auch die Gegenfächer, die ich für meine Facharztausbildung gewählt hatte – Thoraxchirurgie, Psychiatrie und Notfallmedizin – waren lehrreich und spannend, das Interesse an der Gerichtsmedizin blieb allerdings immer vorrangig.

Viele Menschen studieren Medizin, weil sie heilen wollen. Welche Beweggründe hatten Sie für die Wahl Ihres Faches?

Berzlanovich: Die wichtigsten Arbeitsgebiete der Gerichtsmedizin sind die Untersuchung von natürlichen und gewaltsamen Todesfällen sowie die Beurteilung von Verletzungen Lebender. Um den wachsenden Anforderungen der öffentlichen Gesundheits- und Ermittlungsbehörden gerecht zu werden, hat sich außer der DNA-Typisierung, Biomechanik und der Forensischen Radiologie in den letzten Jahren als neuer Fachbereich die Forensische Gerontologie etabliert. Das breite Themen-spektrum des Faches hat meine Berufswahl wesentlich beeinflusst. Mein langjähriges wissenschaftliches Schwerpunktgebiet ist die Forensische Gerontologie.

Mit diesen Studien haben Sie für einiges Aufsehen gesorgt – was war der Hintergrund?

Berzlanovich: Meine Studie zu „Todesfällen im Rahmen von Fixierungsmaßnahmen bei Pflegebedürftigen” wurde zum Anlass genommen, die Problematik der Fixierungen in die Tagesordnung einer Sitzung des Landespflegeausschusses einzubringen. Zur Beschlussfassung wurde von der zuständigen Staatsministerin angeregt, dass eine Kommission ein Konzept zum Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen erarbeiten und dem Landespflegeausschuss über die Ergebnisse berichten soll. Ich habe als externe Beraterin gemeinsam mit Vertretern der Pflegeverbände, der Ärzteschaft, der Einrichtungs- und Kostenträger sowie der Aufsichtsbehörden einen Leitfaden (Leitfaden zum Download unter http://www.stmas.bayern.de/pflege/pflegeausschuss/fem-leitfaden.pdf, Anm.)
erstellt . Dieser soll keine Handlungsschemata auferlegen, sondern Denkanstöße für eine verantwortungsvolle Prüfung des Einsatzes und einen verantwortungsvollen Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege geben. Dieser Leitfaden beinhaltet Alternativen zur Anwendung von mechanischen Fixierungen bei Pflegebedürftigen, Vorschläge zur Prophylaxe fehlerhafter oder rechtswidriger Fixierungen und Möglichkeiten der internen und externen Qualitätssicherung zur Unterstützung, Beratung und Kontrolle der Pflegenden. Er richtet sich gleichermaßen an die Betroffenen, die Pflegekräfte, die Heimleitungen, die Träger von Einrichtungen, die Angehörigen, die Ärzte und die Justiz. Checklisten und spezifische Erläuterungen sollen als konkrete Hilfestellungen für die am Entscheidungsprozeß Beteiligten dienen.

Seit Ende Oktober arbeiten Sie wieder am Department für Gerichtliche Medizin in Wien – warum sind Sie aus München weggegangen?

Berzlanovich: Ich möchte meine neuen Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich in München gewonnen habe, in Wien umsetzen. – Optimistin, die ich bin (lacht). Bis jetzt habe ich es noch nicht bereut (das Interview fand in der ersten Arbeitswoche Berzlanovichs nach ihrer Rückkehr aus München statt, Anm.).

Ihr Spezialgebiet ist die forensische Gerontologie – warum eigentlich?
Berzlanovich: Zu den Verantwortlichkeiten der Gerichtsmedizin gehört – meiner Meinung nach – nicht nur die sachgerechte Durchführung der klassischen Obduktion bzw. der Begutachtung, sondern auch das Bestreben von den Toten zu lernen, um den Schaden von den Lebenden fernzuhalten oder zumindest zu minimieren. Ich habe mich aus diesem Grund in meinen wissenschaftlichen Arbeiten mit plötzlichen Todesfällen von Alten und Uralten auseinandergesetzt und mich auch mit forensischen Fragen von Gesundheitsrisiken und deren Vermeidung beschäftigt. Den gerade bei älteren Menschen besteht die Gefahr, dass im Zusammenhang mit Sterben und Tod in der ärztlichen Betreuung und Pflegequalität relevante Fehler unterlaufen und übersehen werden.

Sie waren die erste Professorin für Gerichtsmedizin in der 206jährigen Geschichte des Departments für gerichtliche Medizin in Wien – gab es Stolpersteine auf dem Weg dahin?

Berzlanovich: Mühsam war es immer. Als ich mich gleich nach der Promotion um eine Facharztstelle bewarb hieß es: „Sie sind doch gar nicht so häßlich, dass sie keinen Mann bekommen – warum wollen Sie denn die Stelle haben?” Ich habe dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ehemaligen an der II. Med. Universitäts-klinik gearbeitet und mich bei der nächstfolgenden Ausschreibung wieder beworben und tatsächlich eine Halbtagsstelle für ein Jahr bekommen. Das vielfältige Betätigungsfeld mit Toten, Misshandelten oder Verletzten hat mich von Anfang so sehr interessiert, dass ich gegen alle Hürden beharrlich gekämpft habe oder diesen ausgewichen bin. Neben meiner Routinetätigkeit und Forschung war mir die Lehre von Anfang an wichtig, der Austausch mit den StudentInnen, hat mir immer viel gebracht und mich bestärkt im Fach zu bleiben.

Gab es Zeiten, in denen Sie alles „hinschmeißen” wollten?

Berzlanovich: Natürlich, etwa als ich an meiner Habilitation gearbeitet habe und mich desöfteren fragte: Warum sitzt Du da noch um Mitternacht in der Sensengasse 2 (Department für Gerichtliche Medizin, Wien, Anm.)? Aber das musste einfach sein. Ich dachte, wenn ein Mann sich im Fach habilitieren kann, warum soll das dann eine Frau nicht auch schaffen.

Woher holen Sie sich Ihre Kraft?

Berzlanovich: Von meinem Partner, meiner Familie, meinen Freunden und meinen Hobbies. Ich gehe sehr gerne joggen, laufe über 4.000 km pro Jahr. Am liebsten gegen 5 Uhr Früh. Da habe ich Zeit, um meinen Tag zu strukturieren, über Projekte nach zu denken und gelegentlich Probleme zu lösen.

Was wollen Sie jungen Kolleginnen mitgeben, die sich für Gerichtsmedizin interessieren?

Berzlanovich: Engagement und Selbstbewusstsein sind wichtig, ebenso wie ein eiserner Wille und Hartnäckigkeit. Sie müssen mögen, was sie tun – und ein bisschen Glück haben, denn einfach ist eine Karriere in der Gerichtsmedizin sicherlich nicht.

„Zur Person”:
Prof. Dr. Andrea Berzlanovich wurde am 11.09.1960 Wien geboren und wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf. Bereits im Kindesalter wollte sie Gerichtsmedizinerin werden. Sie ist seit 1990 am Department für Gerichtliche Medizin in Wien tätig. Im Jänner 2005 hat sie sich mit dem Thema „Forensischen Gerontologie”, als erste Österreicherin im Fach Gerichtliche Medizin, habilitiert. Vom März 2005 bis September 2007 war sie für Forschung bzw. Lehrzwecke zur Auslandspraxis am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München freige-stellt, wo sie sich mit der Thematik „Gewalt und Vernachlässigung gegenüber alten Menschen in häuslicher und institutioneller Pflege” befasste. Für die Einreichung der Studie „Todesfälle im Rahmen von Fixierungen in Pflegesituationen” hat sie Förderpreise der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (2005, 2006) und den Stiftungspreis 2007 der Münchner Medizinischen Wochenschrift erhalten. Seit Oktober 2007 arbeitet sie wieder am Department für Gerichtliche Medizin Wien.