600 bis 700 Missbrauchshandlungen an Kindern werden jedes Jahr angezeigt. Die Dunkelziffer ist allerdings enorm: Rund 300.000 Mädchen und rund 172.000 Burschen werden – Schätzungen zufolge – im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in Österreich sexuell missbraucht.
Die geringe Aufdeckungsquote erklärt sich mit dem sehr häufigen Naheverhältnis des Täters (über 90 Prozent der Missbraucher sind Männer) mit dem Kind. Denn nur jeder sechste sexuelle Missbrauch wird von einem Unbekannten verübt. Die übrigen Täter rekrutieren sich aus der Familie und engen Freunden der Familie. „Die Kinder reden häufig nicht, weil sie vom Täter zur Geheimhaltung überredet werden“, erläutert Dr. Dieter Baumgarten, niedergelassener Kinderarzt in Wien: „Zudem ist die Scham oft sehr groß: Die Kinder spüren, dass das Geschehene nicht richtig ist – glauben aber, sie seien schuld an dem, was Ihnen angetan wurde.“
Falscher Täterschutz
Auch mangelnde Zivilcourage schützt die Täter. Denken Sie an den Fall Amstetten, indem jahrelang niemand etwas von der eingesperrten Tochter und dem Missbrauch durch den eigenen Vater bemerkt haben will (Fall Fritzl). Ähnliche Fälle sind in Belgien (Fall: Dutroux) oder Italien (Fall „Laura“) bekannt geworden. Aber nicht nur mangelnde Zivilcourage, auch mangelnde Vorstellungskraft kann eine Anzeige verhindern, meint Dieter Baumgarten: „Manche Dinge sind so unglaublich, dass es für einen gesunden Menschen einfach nicht vorstellbar ist.“ Das Ergebnis: Auch wenn Signale sichtbar sind, wird den Betroffenen oft nicht geglaubt, die Signale werden verdrängt, weil nicht sein kann, was– laut Vorstellung – nicht sein darf.
Tatort Kinderzimmer neu
Um sexuellen Missbrauch immer wieder zu thematisieren und Hilfen – sowohl für missbrauchte Kinder und Jugendliche – als auch für Eltern, Erzieher und andere Vertrauenspersonen zur Verfügung zu stellen, erscheint seit mehreren Jahren eine Broschüre der Vereinigung österreichischer Kriminalisten, die sich umfangreich dem Thema, seinen vielfältigen Implikationen und Aufdeckungsmöglichkeiten widmet. Der Titel der Broschüre lautet „Tatort Kinderzimmer“. Derzeit wird die nächste Auflage gedruckt. „Wir versuchen möglichst jedes Jahr eine Neuauflage zu gestalten“, berichtet Chefinspektor Ferdinand Germadnik, einer der „Motoren“ der Broschüre, die seit 2000 erscheint und in einer Auflage von 10.000 Stück gedruckt wird: „Wir kämpfen natürlich immer mit der Finanzierung“, so der Initiator, „aber bis jetzt hat es – dank vielfältiger Unterstützung – immer geklappt.“
Mit der Broschüre „Tatort Kinderzimmer“ will die Vereinigung österreichischer Kriminalisten umfassend, sachlich und hilfreich zum Thema Kindesmissbrauch informieren. In jeder Neuauflage werden die statistischen Daten aktualisiert und neue Erkenntnisse eingearbeitet. „Wir wollen mit dieser Broschüre auch über das Procedere nach einer Anzeige informieren“, gibt Germadnik im Interview mit der Österreichischen Ärztezeitung an: „Da existieren bei den Betroffenen große Unsicherheiten, die wir mit der Broschüre entkräften wollen.“
Versteckte „Notzeichen“
Dennoch, der Weg zu einer Anzeige eines missbrauchenden Familienmitglieds oder eines Freundes der Familie ist schwer – und nicht immer Erfolg versprechend: Nur jeder zweite angezeigte Täter wird auch verurteilt und die Strafen fallen oft sehr gering aus. So liegen die Strafen bei sexuellem Missbrauch zwischen einem und zehn Jahren. Wird das Opfer schwer verletzt oder schwanger, drohen fünf bis 15 Jahre Haft. Verstirbt das Opfer, kann der Täter zu zehn bis 20 Jahren Haft verurteilt werden.
Das sollte allerdings niemanden daran hindern, auf Zeichen möglicherweise betroffener Kinder und Jugendlicher zu hören und diese „Notzeichen“ richtig zu interpretieren. In der Broschüre „Tatort Kinderzimmer“ heißt es dazu: „Die meisten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs dauern mehrere Jahre an. Die Kinder senden fast immer Hilferufe an ihre Umgebung aus – verschlüsselt und am seltensten durch Worte.“ Derartige „Notzeichen“ können Angst vor dem Alleinsein, Weinkrämpfe, Übelkeit, Schulprobleme, Aggressionen oder Rückzug, altersinadäquate sexualisierte Sprache und natürlich Verletzungen im Urogenitalbereich sein (siehe Fallbeispiel Kasten 1). Sichtbare Verletzungen findet man allerdings nur in 15 Prozent der angezeigten Fälle. Zur Abklärung eines sexuellen Missbrauchs ist von den behandelnden Ärzten viel Fingerspitzengefühl gefragt: „Natürlich können Verletzungen im Urogenitaltrakt bei Mädchen auch die Folge von Sturzverletzungen sein“, erläutert Dieter Baumgarten. „Da kann es sinnvoll sein, sich für die genaue Abklärung an eine spezialisierte Abteilung zu wenden.“ In Wien finden sich im Allgemeinen Krankenhaus mehrere Spezialambulanzen, die sich dieses Themas annehmen und auch forensische Untersuchungen durchführen (siehe Kasten 2: Ansprechpartner).
Alleingang unerwünscht
Von einem Alleingang bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen rät die Broschüre „Tatort Kinderzimmer“ übrigens explizit ab. Wer einen solchen Verdacht hegt, sollte tunlichst davon absehen, den potenziellen Missbraucher auf eigene Faust mit seinen Taten zu konfrontieren. Zuerst sollte sich die Person, die einen Verdacht hegt, selbst Hilfe suchen, denn der Verdächtige würde „versuchen, den Verdacht zu zerstreuen und die Aussagen des Kindes in Zweifel zu ziehen“, so die Broschüre. Auch Dieter Baumgarten rät dringend von einem Alleingang ab: „Ich würde mich vor einem solchen Rohling hüten“, meint der erfahrene Pädiater. Hegt jemand einen Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch, so kann das Jugendamt informiert werden, das verpflichtet ist, einem solchen Verdacht nachzugehen. Auch die Exekutive kann angesprochen werden und natürlich Kinderärzte und Allgemeinmediziner, die das betroffene Kind kennen.
Das Aufdecken eines sexuellen Kindesmissbrauchs hat übrigens rein gar nichts mit Verleumdung zu tun. „Eine Verleumdung liegt nur vor, wenn jemand gegen einen anderen den Verdacht ausspricht, eine Straftat begangen zu haben und weiß, dass die Anschuldigung falsch ist“, steht in der Broschüre zu lesen und weiter: „Das liegt nicht vor, wenn dem Anzeiger bestimmte Indizien vorliegen und er den Verdacht äußert, jemand missbrauche ein Kind. Die Polizei prüft die Hinweise, ihre Zusammenhänge und versucht herauszufinden, ob tatsächlich ein Missbrauch vorliegt und ob es sich bei dem Verdächtigen um den Täter handelt.“ Auch an das Jugendamt können sich Menschen wenden, die glauben, Indizien auf einen Missbrauch zu haben. Nicht zuletzt bietet jedes größere Krankenhaus Kinderschutzgruppen, die ebenfalls Rat und Hilfe anbieten. „Dort wird dem Kind die Möglichkeit geboten, aus der Familie und der Missbrauchssituation fort zu kommen“, erklärt Kinderarzt Dr. Dieter Baumgarten. „Ein umfangreicher Betreuungsstab, bestehend aus Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern kümmert sich dann um die weitere Aufarbeitung.“ Die Angst vor einer Denunziation ist also unbegründet. Übrigens sind nur drei bis fünf Prozent der Beschuldigungen durch Kinder und Jugendliche Falschaussagen. Bei anderen Delikten beträgt diese Quote bis zu 20 Prozent.
Positive Resonanz
Schon aus diesem Grund ist es Ferdinand Germadnik ein wichtiges Anliegen, die Broschüre „Tatort Kinderzimmer“ vor allem an Ärzte zu verteilen. Nicht nur, damit diese die Broschüre selbst lesen können, sondern auch zur Auflage im Wartezimmer, um die Patienten zu informieren: „Wir erhalten viele positive Rückmeldungen, sowohl von Ärzten, die weitere Broschüren anfordern, als auch von Patienten, die sich mit dem Wunsch, eine solche Broschüre ebenfalls zu erhalten, an uns wenden“, berichtet der langjährige Chefinspektor der Kriminalpolizei Wien. „Die Adressen der Ärzte erhalten wir von der Österreichischen Ärztekammer, mit der die Zusammenarbeit äußerst positiv ist“, streut Germadnik der ÖÄK Rosen.
Nicht nur die Broschüre wird von der kriminalpolizeilichen Vereinigung herausgegeben, „Tatort Kinderzimmer“ ist Teil einer umfassenden Kampagne gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Auf der Website www.fingerweg.at finden sich viele Informationen rund um das Thema und weitere Links. Auch eine Solidaritätsadresse kann auf der Website abgegeben werden.
Kasten 1: Fallbeispiel aus „Tatort Kinderzimmer“
Über ihr vier Jahre dauerndes Vergewaltigungsmartyrium zu sprechen, war der zehnjährigen Erika nicht möglich. Ein Liebhaber ihrer Mutter hatte das Mädchen zum Geschlechtsverkehr gezwungen, jedes Mal, wenn sie allein zu Hause waren. Drei Wochen bevor der Fall aufflog, vergewaltigte der Mann das Kind in der Toilette eines Restaurants. Seine Aussage machte das Kind schriftlich. Immer wenn Erika von dem Mann sprach, wurde ihr schlecht; während der Therapie urinierte sie einmal auf den Sessel.
Die Aggressionen des Kindes waren nicht als Alarmsignal gedeutet worden, auch die Schulprobleme nicht – Reaktion der Eltern: Erika kam in ein Internat. Nach mehreren Monaten zog sie eine Therapeutin ins Vertrauen.
Kasten 2: Ansprechpartner:
www.kripo-online.at
Hier können Sie die Broschüre „Tatort Kinderzimmer“ im Wortlaut nachlesen und bestellen
www.fingerweg.at
Eine Aktion der „Vereinigung österreichischer Kriminalisten“ zur Sensibilisierung gegen Kindesmissbrauch
Kinderambulanz der Universitätsfrauenklinik Wien