Demente Menschen sind keine lebenden Toten!

Die Methode der Validation stellt eine wirksame Kommunikationsmethode zwischen Arzt und Patient dar, auch wenn die Krankheit bereits sehr weit fortgeschritten ist. Dabei benötigt die Validation nicht mehr Zeit als die Gabe eines Psychopharmakons.

Im Interview erzählt die renommierte Gerontologin und Entwicklerin der Methode der Validation, Naomi Feil, warum sie davon überzeugt ist, dass Demenzpatienten nicht „ohne Geist“ sind, Weisheit besitzen und über ihr Verhalten ihre Bedürfnisse artikulieren.

Wozu wird Validation gebraucht?

Feil: Ohne Validation wären Menschen, die nicht mehr verbal kommunizieren können, weil sie alt und krank sind, ganz allein. Sie würden zu „lebenden Toten“ werden.

Was ist Validation?


Feil: Validation ist eine Methode, um mit Menschen zu kommunizieren, deren verbale Fähigkeiten, deren logisches Denken durch die Alzheimer-Erkrankung oder eine andere Demenzform stark eingeschränkt ist. Sie beruht auf der Fähigkeit zuhören und empathisch reagieren zu können. Alte Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, empfinden oft Wut oder Angst. Sie können aber nicht mehr sagen, warum sie wütend oder ängstlich sind. Validation kann dabei helfen, diese Gefühle zu bearbeiten und die Betroffenen zu beruhigen.

Wie haben Sie diese Methode entwickelt?

Feil: Ich bin in einem Pflegeheim in Cleveland aufgewachsen. Mein Vater hat das Heim geleitet, meine Mutter war dort als Sozialarbeiterin tätig. Nach meinem Psychologiestudium trat ich eine Stelle in diesem Heim an und traf auf einen Mann, einen Alzheimer-Patienten, der meinen Vater beschuldigte, von ihm im Keller des Heims kastriert worden zu sein. Ich versuchte sämtliche Methoden, die ich gelernt hatte, um zu diesem Mann durchzudringen. Das reichte von Freud über Verhaltenstherapie bis hin zum Realitätsorientierungstraining“ – nichts hat funktioniert. Der Mann wurde immer zorniger, immer lauter, immer aggressiver. In Gesprächen mit seiner Familie fand ich heraus, dass dieser Mann als Kind fast täglich von seinem aggressiven Vater zur Strafe auf den Dachboden gesperrt worden war – völlig grundlos. Der Patient war sein Leben lang ein ruhiger, zurückhaltender Mann gewesen. Erst im letzten Stadium seiner Alzheimer-Erkrankung kam diese Erinnerung wieder zutage. Der Mann konnte nicht mehr logisch denken, er lebte nicht mehr im Hier und Jetzt – seine Wut und Angst fanden ein Ventil in der Beschuldigung meines Vaters. Mein Vater war als Leiter des Heims zum Stellvertreter seines Vaters geworden.

Was bedeutet „Stellvertreter“?

Feil: Sehr viele hochbetagte Demenzpatienten leiden unter unerledigten Angelegenheiten. Sie konnten ihrer Mutter nicht mehr sagen, dass sie sie lieben, sie wurden als Kinder bestraft, sie erlebten Traumata in Kriegen – all das konnten sie in ihrem Leben nicht mehr aufarbeiten. Für einen Alzheimer-Patienten kann dann die Pflegeperson, der Arzt, die Tochter, der Enkel die Funktion des Stellvertreters einnehmen. Er oder sie können zu Mutter oder Vater werden, oder – das bemerken wir bei ehemaligen Gefangenen aus Konzentrationslagern, zum KZ-Aufseher.

Konnten Sie dem Mann helfen?

Feil: Leider nicht. Ich habe ihm nie zugehört. Er starb, ohne seine Vergangenheit aufarbeiten zu können. Dieser Patient war für mich allerdings der Auslöser, mich intensiv mit diesen Patienten zu befassen. Ich begann den kranken alten Menschen zu zu hören – das war 1963 – und das waren die Anfänge der Validation. Ich fand heraus, wie weise diese Menschen waren und dass es immer einen Grund für ihr Verhalten gab. Viele Patienten gehen in die Vergangenheit zurück, um unerledigte Angelegenheiten zu durchleben. Wir müssen ihnen dabei helfen, diese zu bearbeiten und abzulegen. Ein wichtiges Prinzip dabei: Lügen Sie die Patienten niemals an. Wenn eine Patientin nach ihrer Mutter verlangt, darf man ihr nicht sagen, dass diese in wenigen Minuten da ist. Denn tief im inneren wissen diese Menschen die Wahrheit. Sie erkennen sie mit ihrem „inneren Auge“. Wird die Patientin – auch durchaus aus gutem Willen – angelogen, wird sie verstummen. Denn tief in ihrem Innern weiß sie, dass ihre Mutter tot ist – sie selbst hat sie begraben.

Was drückt sich in solchen Bildern aus?

Feil: Der Wunsch nach der Mutter kann die Sehnsucht nach Geborgenheit ausdrücken. Eine Patientin von mir rief immer wieder „Healven! Healven! – Sie konnte nicht mehr richtig sprechen und mixte Worte zusammen. Was sie wollte war: „Help from Heaven! also Hilfe aus dem Himmel! Denn im Himmel war in ihrer Vorstellung ihre Mutter – sie sehnte sich also nach ihrer Mom. Diese Sehnsucht im Gespräch zu spiegeln, in Worte zu fassen, in Berührung, hilft der Patientin auch in ihrem reduzierten Zustand, Geborgenheit und Ruhe zu finden.

Wie kann die Validation Angehörigen, Pflegern und Ärzten helfen?

Feil: Validation bedeutet die Schaffung einer Kommunikationsebene mit dem Patienten. Dies kann durch Augenkontakt geschehen, durch Berührungen, durch Spiegeln von Mimik und Gestik und – ganz wichtig – durch Empathie und Spiegel des Gesagten. Ein Beispiel: Wenn eine alte Dame sagt: „Ich muss meine Mutter treffen.“ sagen sie: „Sie müssen ihre Mutter treffen?“ Dabei versuchen sie, die gleichen Emotionen zu empfinden, wie diese Patientin in diesem Moment. Wenn sie das nicht tun, wird die Patientin nicht darauf ansprechen.

Das stelle ich mir schwierig vor…

Feil: Das ist in Kursen zu erlernen. (Kurszentren siehe Kasten 1). Sie lernen in Validationskursen, ihre eigenen Gefühle für die Dauer des Gesprächs wegzuschieben. Sie lassen sich ganz auf die Patientin ein, betrachten sie genau, sie sehen in ihre Augen, hören auf ihre Stimme. Wenn sie jemanden aus nächster Nähe betrachten, können sie dessen Gefühle nachempfinden. Wenn die Patientin z. B. ängstlich ist, wird ihr Herz anfangen, schneller zu schlagen. Dann fragen sie: „Sie haben gerade große Angst, oder?“ Damit haben sie eine gemeinsame Ebene mit der Patientin hergestellt, sie kommunizieren. Dann kommt oft alles heraus, sie werden zum Stellvertreter, bleiben aber trotzdem sie selbst. Den Patienten hilft das enorm, weil sie sich auf einer tiefen Bewußtseinsebene verstanden fühlen. Wird einfühlsam zugehört, verschwinden oft Wut, Angst und Aggression, weil die zugrundeliegende Situation erfolgreich bearbeitet werden konnte.

Warum ist die „therapeutische Lüge“ bei diesen Patienten kontraindiziert?

Feil: Weil die Patienten eine Lüge merken. Sie „sehen“ sie mit ihrem inneren Auge.

Was ist das „innere Auge“?

Feil: Erstmals wurde dies durch den Neurochirurgen Wilder Penfield im Jahr 1951 beschrieben. Er kartographierte den Temporallappen, der für Gerüche, Geschmäcker, Empfindungen ganz allgemein zuständig ist. Dieses „innere Auge“ ermöglicht uns Reisen in die Vergangenheit. Alzheimer-Patienten, die nicht mehr gut sehen, hören und sprechen können, reisen mit ihrem inneren Auge in die Vergangenheit und erleben bestimmte Ereignisse immer wieder –bis sie diese – im besten Fall – erfolgreich verarbeiten und friedlich sterben können.

Konnte die Wirksamkeit von Validation in Studien nachgewiesen werden?

Feil: Definitiv. Es konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden, dass regelmäßige und professionelle Validation die Notwendigkeit der Gabe von Psychopharmaka um bis zu 25 Prozent verringern kann.

Warum ist die Methode der Validation auch für Ärzte sinnvoll?

Feil: Zum einen reduziert sie die Gefahr eines Burnouts. Wenn sie wissen, woher etwas kommt, wenn sie die Welt eines Alzheimer-Patienten betreten haben, sind sie nicht mehr frustriert. Wenn sie ihren Patienten so akzeptieren können, wie er ist, kann dies eine unglaubliche Zufriedenheit für beide – Arzt und Patient – mit sich bringen. Sehen Sie, Validation braucht nicht viel Zeit.

Was heißt das?

Feil: Ein Beispiel: Eine demente alte Dame vermisst ihren verstorbenen Ehemann. Der behandelnde Arzt kann ganz leicht zum Stellvertreter für diesen vermissten Mann werden. Wenn dieser mit der Situation nicht umzugehen weiß, wird er der verwirrten alten Dame ein beruhigendes Medikament verabreichen. Wenn der Arzt versteht, dass diese alte Dame einfach nur den Mann vermisst, mit dem sie jahrzehntelang verheiratet war und zu ihr sagt: „Sie vermissen ihren Ehemann, nicht wahr?“ wird sich die Situation klären. Und dieses Gespräch kann er führen, während er die Patientin untersucht. Das dauert nicht länger als fünf Minuten. Und das Ergebnis: Arzt und Patient werden eine wunderbare Beziehung aufbauen.

Sie arbeiten seit 45 Jahren mit Validation – was ist Ihre Botschaft?

Feil: Akzeptieren Sie alte, demente Menschen, wie sie sind. Versuchen Sie nicht, sie zu verändern. Verstehen Sie, dass diese Menschen sich in ihrer letzten Lebensphase befinden. Sie sehen und hören mit ihrem inneren Auge. Diese Menschen brauchen jemanden, der ihnen mit Empathie zuhört. Auch wir würden das wollen, wenn wir alt und hilflos werden. Menschen, die mit Validation arbeiten, machen ihre Arbeit gern. Und sie haben Spaß. Lassen Sie mich das an einem letzten Beispiel demonstrieren: Eine der betagten Frauen in meiner Gruppe wirkte eines Tages sehr froh, sie lächelte die ganze Zeit. Ich fragte sie: Warum sind Sie so glücklich? Sie sagte: Ich hatte gerade eine wunderbare Unterhaltung mit meiner Mutter und meiner Tante. Und wissen sie: Ich brachte es einfach nicht übers Herz, Ihr zu sagen, dass sie tot sind.“