Frühchen haben keine Lobby!

Enger Kontakt mit den Eltern, abwartendes Beobachten, medizinische Eingriffe nur bei unbedingter Notwendigkeit, enge Zusammenarbeit der verschiedenen ärztlichen Disziplinen – auf neonatologischen Stationen dreht sich alles darum, Frühgeborene so gut wie möglich auf das Leben außerhalb des Mutterleibs vorzubereiten.

Hätte sie Anlagen zur Selbstgerechtigkeit, könnte Marina Markovich sich heute gratulieren: Ihre Arbeit, noch vor 15 Jahren verunglimpft, ausgepfiffen und verspottet – gilt heute als dernière cri der Neonatologie: Enger Kontakt zwischen Müttern und Kindern, beobachtendes Abwarten des Frühgeborenen, Technik, auch die Beatmung, nur dann, wenn es wirklich erforderlich ist. Die amerikanische Psychologin Heidelise Als hat ein Programm entwickelt, das heute als state of the Art in der Neonatologie gilt: NIDCAP, so die Abkürzung, bedeutet Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Programme. Und dieses Programm ist nichts weniger als das, was die damalige Neonatologin Markovich schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Mauthner Markhofschen Kinderspital angewendet hat (siehe auch „Marina Markovich – 15 Jahre danach auf der nächsten Seite).

Schattendasein
Mag sein, die Zeit war noch nicht reif für die Arbeit der heute als Kinderärztin in Wien tätigen Neonatologin. Vieles von ihrer Arbeit ist trotzdem mittlerweile Standard auf Frühgeborenenstationen. Auch einer Reihe technischer Fortschritte ist es zu verdanken, dass selbst Winzlinge unter 500 Gramm mitunter gute Überlebenschancen aufweisen. Der Alltag in der Neonatologie, die Forderungen, die diese Arbeit an die dort tätigen Personen stellt, bleiben nichts desto weniger meist im Schatten. Nur dann, wenn wieder einmal ein extrem winziges Frühchen, wie jüngst die kleine Amilia aus Florida, mit einem Geburtsgewicht von 280 g als „gesund” nach Hause entlassen wird, gerät die Neonatologie wieder in die Schlagzeilen.

„Routinefälle”
Die Fakten: Rund zehn Prozent der Kinder werden zu früh geboren. Ein Viertel davon gelten als „Hochrisikokinder”, das bedeutet, sie kommen vor dem Ende der 27. Schwangerschaftswoche und mit einem Geburtsgewicht unter 1.000 Gramm auf die Welt. Als frühgeboren gilt ein Kind, das vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren wird. Dabei gelten Frühgeborene zwischen der 30. und 37. Schwangerschaftswoche heute auf den neonatologischen Stationen durchaus schon als „Routinefälle. Für diese Kinder steht ein Inkubator bereit, die Frühchen müssen nur sehr selten beatmet und können in den meisten Fällen mit Muttermilch ernährt werden. Nur etwa zehn Prozent dieser Frühgeborenen tragen Folgeschäden davon.

Hochleistungsmedizin…
Ganz anders gestaltet sich die Situation bei Frühgeborenen vor der 30. Schwangerschaftswoche. Im Idealfall wird bereits vor der Geburt des Kindes mit den Eltern Kontakt aufgenommen. Ihnen wird erklärt, was auf sie und das Kind zu kommt und sie nehmen das Frühchen nach der Geburt in Empfang. Auch an der Wiener Neonatologie wird nach dem NIDCAP-Prinzip gearbeitet: Beatmung nur, wenn es unbedingt sein muss. Den Kindern wird – unmittelbar nach der Geburt – wann immer vertretbar, der sofortige Kontakt mit der Mutter ermöglicht, um das Bonding nicht zu erschweren, das für die Bildung von Urvertrauen erforderlich ist. Nach der Ankunft auf der Neonatologie wird dem Kind erst einmal eine Ruhepause gegönnt. Beatmet wird nur, wenn das Kind nicht von selbst atmet. Wenn ein Kind Vitalzeichen aufweist, wird versucht, die Atmung mit einer PEEP-Maske (Positive endexspiratory pressure) zu unterstützen. Beatmet wird heute nur noch, wenn die Lunge des Frühgeborenen extrem unreif ist und die vorgeburtliche Kortisongabe, die die Bildung von Surfactant beschleunigt, nicht ausgereicht hat.

… und Geborgenheit
Die Eltern werden in das Geschehen auf der neonatologischen Station eng mit einbezogen. Sie streicheln, füttern und halten das Baby, um ihm den Aufenthalt auf der Neonatologie zu erleichtern. Psychologische Unterstützung hilft den betroffenen Eltern, mit dieser für sie schwierigen Situation umzugehen und die Bindung zum Baby zu verbessern. Eltern haben jederzeit Zutritt zu ihrem Kind, werden in die Versorgung der Frühchen stark miteinbezogen.

Technische Revolution
Noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts standen die Chancen für Frühgeborene schlecht. Erst mit der Einführung der CPAP-Beatmung, Anfang der 70er Jahre verbesserten sich die Überlebenschancen dieser Babies. Die Entwicklung von künstlich hergestelltem Surfactant, Ende der 80er Jahre stellte einen Quantensprung in der Behandlung Frühgeborener dar, weil damit erstmals die Lungenreifung beschleunigt werden konnte. Erst in den letzten zehn Jahren geriet, neben der technischen Entwicklung, auch die Individuum-zentrierte Behandlung – und damit das eingangs beschriebene Umgehen mit den Frühchen – in der Neonatologie in den Vordergrund. Die Apparatemedizin spielt allerdings auch heute noch eine wichtige Rolle in der Neonatologie. Es nützt die beste Stimulierung der Frühchen nichts, wenn das Kind nicht überlebt.

Oft Langzeitschäden
Auch wenn die Neonatologie seit den 70er Jahren enorme Fortschritte gemacht hat – immerhin überleben heute 60 Prozent der vor der 24. SSW geborenen Kinder – so bleibt eine Reihe von Problemen bestehen, die immer noch ihrer Lösung harren: Viele Frühgeborene erleiden Hirnblutungen, die irreversible Schäden verursachen. Darmschädigungen sind ebenfalls häufig. „Es gibt immer wieder Kinder, die unter einer nekrotisierenden Enterokolitis leiden”, erklärt die Neonatologin und Kinderärztin Dr. Ursula Vallazza, die die Neonatologie am Krankenhaus SMZ Ost in Wien mit aufgebaut hat und heute als niedergelassene Kinderärztin ordiniert. „Deshalb ist es so wichtig, die Darmtätigkeit der Frühchen genau zu beobachten und so früh wie möglich wenigstens enteral zu ernähren.”
Von den Frühgeborenen, die überleben, kommen nur etwa 30 Prozent ganz ohne Schäden davon, weitere 30 Prozent weisen später in ihrem Leben Verhaltensstörungen oder Lernschwierigkeiten auf, 30 Prozent müssen mit mehr oder weniger schweren Behinderungen durchs Leben gehen. Die Ursachen für die Behinderungen der Kinder sind unklar, „teilweise werden sie auf die Unreife der Organe des Kindes aufgrund der Frühgeburt zurückgeführt”, wie Ursula Vallazza anmerkt, „teilweise kommen sie sicherlich durch die Stresssituation auf der neonatologischen Intensivstation zustande.”

Grenze erreicht
Einzelne Extremfälle, wie jener der kleinen Amilia, haben laut Aussage der befragten Neonatologin keinen wesentlichen Einfluss auf die tägliche Arbeit. Vallazza rechnet nicht damit, dass sich das Geburtsalter Frühgeborener noch wesentlich nach unten verändern wird: Auch in Zukunft wird es Kinder geben, die mit so schlechten Voraussetzungen auf die Welt kommen, dass alle intensivmedizinische Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. „Das ist immer die schwierigste Situation für den Neonatologen”, räumt Vallazza ein: „Routineregeln helfen in einer solchen Situation nicht, hier muss im Einzelfall entschieden werden, welche Maßnahmen noch vertretbar sind und wann es besser ist, der Natur ihren Lauf zu lassen.”

„Ein Mensch mit Würde”
In der Zwischenzeit arbeiten sie – von neugierigen Journalistenfragen ungestört daran, den Frühchen optimale Startbedingungen ins Leben zu schaffen, die Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal auf den neonatologischen Stationen in Österreich. Bis es die nächste Amilia auf die Titelblätter der Zeitungen schafft. Am wichtigsten Grundsatz in der Neonatologie ändern Schlagzeilen übrigens nichts: Das Neugeborene, wie klein oder jung auch immer, ist ein Mensch mit einer eigenen Lebensgeschichte und einem Schicksal, ein Mensch mit Würde. Es ist schwach und daher von den ethisch-moralischen Haltungen der Betreuer, der Eltern und der Gesellschaft vollkommen abhängig. Dieses Credo ist wohl ganz im Sinne der Neonatologin, die in Österreich vieles in Gang gebracht hat – mit Marina Markovich.