Psychische Leiden: Weit verbreitet, häufig unterschätzt, schwer abschätzbar

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Fleischhacker

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Fleischhacker

Rund 145 Millionen Menschen leiden weltweit an psychischen Erkrankungen. Unter den zehn schwerwiegendsten Erkrankungen befinden sich bereits vier psychische Störungen. Das Jahrestreffen der World Psychiatric Association in Wien stand 2003 unter dem Motto: „Diagnose in der Psychiatrie – Integration der Wissenschaften” und diskutierte Diagnose und Kategorisierung psychischer Erkrankungen.

„Depressionen oder Psychosen sind eben nicht auf dem Röntgenbild oder im Blutbild darstellbar”, sagt Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Fleischhacker, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck und Gastgeber des Jahrestreffens der WPA 2003. „Das unterscheidet unser Fachgebiet von vielen anderen medizinischen Disziplinen.” Die Beschreibung und Einteilung eines großen Teils psychischer Erkrankungen ist nach wie vor rein deskriptiv. Prof. Fleischhacker: „Der Prozess des Diagnostizierens psychischer Erkrankungen ist äußerst komplex, muss sicherlich interdisziplinäre Erkenntnisse berücksichtigen und immer wieder auf seine Gültigkeit überprüft werden.”

Diagnosen diskutiert
Rund 1.500 internationale Experten diskutierten von 19. bis 22. Juni 2003 in der Wiener Hofburg Themen wie die Abgrenzung von „Normalität” und „psychischer Erkrankung”, die Frage, ob es typische „männliche” und weibliche” psychische Erkrankungen gibt, psychische Störungen im Kindesalter und die Bedeutung der richtigen Diagnose für die richtige Therapie. Die Diagnose psychischer Störungen war immer schon ein heikler Punkt in der Praxis und Forschung der Psychiatrie. Abhängig vom aktuellen Forschungsstand ändern sich auch die der Diagnose zugrunde liegenden Konzepte und damit auch die Zuordnung von Patienten. Aber nicht nur die durch die psychiatrische Lehre festgelegten Prinzipien bestimmten die Diagnose in der Psychiatrie sondern auch andere Faktoren wie etwa kulturellen und religiöse Prinzipien.

Psychische Erkrankungen weit verbreitet
Wie eminent psychische Krankheiten für die Gesundheitspolitik sind, zeigte der Präsident der WPA, der ägyptische Psychiater Ahmed Okasha anhand der aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO: „121 Millionen Menschen leiden weltweit an Depressionen, 24 Millionen Menschen sind an Schizophrenie erkrankt, eine Million Menschen begehen jedes Jahr Selbstmord und zehn bis zwanzig Millionen Menschen unternehmen einen Suizidversuch.” Obwohl die Zahl psychisch kranker Menschen derart hoch ist, hat die Versorgung der Patienten – weltweit gesehen – nicht die notwendige Priorität, sagt Okasha. „33 Prozent der Staaten geben weniger als ein Prozent ihres Gesamt-Gesundheitsbudgets für psychische Erkrankungen aus, bei einem weiteren Drittel ist es gerade mal ein Prozent.”

Psychische Erkrankungen noch immer stigmatisiert
„Gesundheitsbudgets für psychische Störungen sind häufig deutlich schlechter dotiert als die für somatische Leiden”, stellt auch Prof. Fleischhacker fest und führt dies auf die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychisch Kranker zurück: „Das Stigma, das eine psychische Erkrankung hervorruft, betrifft nicht nur Patienten und deren Angehörige, sondern auch Behandlungsmethoden und -institutionen.” Klare und nachvollziehbare Klassifikationen, Diagnosen und Behandlungsmethoden sieht Fleischhacker als Königsweg, um die Patienten adäquat zu betreuen, aber auch die Stigmatisierung zu vermindern.

Vom Symptom zur Diagnose
Einheitlichkeit in Diagnose und den Klassifikationssystemen auf internationaler Ebene ist wichtig, aber „wir müssen sie auch regelmäßig auf ihre Nützlichkeit für die Praxis überprüfen”, sagt Prof. Norman Sartorius, Vorsitzender des wissenschaftlichen Komitees der Wiener Tagung. „Eine Reihe von modernen Behandlungsmethoden erweisen sich bei Erkrankungen als wirksam, die heute in ganz unterschiedlichen Kategorien klassifiziert werden. Vielleicht sollten wir das überdenken und in Zukunft Krankheiten eher danach zusammenfassen, auf welche Therapie sie ansprechen, als nach anderen Kriterien.” Die immer häufiger werdende Diagnose und Therapie von psychischen Erkrankungen durch Allgemeinmediziner könnte laut Prof. Sartorius zur Notwendigkeit einer Adaptierung und Vereinfachung des heute gängigen Klassifikationssystems führen.

Internationale Vergleichbarkeit
Eine stärkere Vereinfachung der Diagnosen, darauf weist auch Prof. Fleischhacker hin, vereinfacht die Kommunikation zwischen Arzt und Patient und macht Diagnosen leichter anwendbar. Ein Trend, der aus den USA nach Europa kommt und – so Fleischhacker – es auch ermöglicht, international einheitliche Kriterien zu finden, die dann auch globale Vergleiche und klinische Studien erlauben.

Frühe Diagnose – verbesserte Therapie
Eine besondere Herausforderung für die psychiatrische Diagnostik stellen die so genannten subklinischen Störungen dar – psychische Erkrankungen, die unter einer gewissen klinischen Signifikanz liegen, die Betroffenen aber bereits beeinträchtigen. Die Bedeutung dieser Störungen ist eminent: „Studien haben gezeigt, dass etwa depressive Symptome in verschiedenen Kombinationen, subklinische Störungen mitgezählt, fast ein Viertel der Bevölkerung betreffen”, sagt WPA-Präsident Okasha. Er fordert intensive Forschung in diesem Bereich, um etwa eine Abgrenzung zwischen „Normalität”, subklinischen Störungen und klinisch signifikanten Erkrankungen besser zu verstehen. „Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass bei sehr vielen Diagnosen in der Psychiatrie eine möglichst frühzeitige Behandlung nicht nur zu einer besseren Prognose und zu einer besseren beruflichen und sozialen Integration Betroffener führt, sondern auch chronische Verläufe oder Rückfälle verhindern kann”, so Prof. Okasha.