Man muss die Toten mögen

Obduktionen in natürlichen oder gewaltsamen Todesfällen, rechtsmedizinische Gutachten, Lehre und Forschung an der Universität: Das Fach Gerichtsmedizin ist breit und bietet viele interessante Spezialisierungsmöglichkeiten.

Das österreichische gerichtsmedizinische Institut zählt zu den ältesten diesbezüglichen Einrichtungen weltweit. Es wurde 1804 von Kaiser Franz I. ins Leben gerufen. 201 Jahre später wurde mit Prof. Dr. Andrea Berzlanovich die erste Frau zur Professorin für Gerichtsmedizin in Österreich berufen. Im Interview berichtet Berzlanovich, die derzeit ein Jahr lang am München rechtsmedizinischen Institut lehrt und forscht, über die spannende Arbeit in ihrem Fach, aber auch über Hürden und Schwierigkeiten, die sie auf ihrem Weg zu überwinden hatte.

Univ.-Prof. Dr. Andrea Berzlanovich

Univ.-Prof. Dr. Andrea Berzlanovich

Warum haben Sie sich ursprünglich dafür entschieden das Fach Gerichtsmedizin zu wählen?

Berzlanovich: Dieser Wunsch war eigentlich bereits in meiner Kindheit da. Das Fach hat mich schon immer fasziniert, und ich habe Medizin studiert, um Gerichtsmedizinerin zu werden. Es interessiert mich, warum und wie jemand ermordet wurde, welche pathologischen Veränderungen ursächlich für den natürlichen Tod waren. Das will ich aufklären.

Was ist für Sie an Ihrem Fach besonders spannend?

Berzlanovich: Die Gerichtsmedizin ist sehr heterogen: Es sind nicht nur Obduktionen durchzuführen, sondern auch Untersuchungen an lebenden Menschen, Beurteilungen und Rekonstruktionen von rechtlich relevanten Körperverletzungen, von Gesundheitsschädigungen, sowie Analysen von medizinischen Behandlungsfehlern durch zu führen. Dazu kommen Untersuchungen von Vergiftungen, Auswirkungen von Alkohol, Medikamenten, Drogen. Außerdem sind spurenkundliche und DNA-Gutachten zu machen. Nicht zuletzt spielt die Lehre eine wichtige Rolle, weil ich sehr gerne mit jungen Leuten zusammenarbeite.

Welches waren die größten Veränderungen in der Gerichtsmedizin in den vergangenen zwei Jahrzehnten?

Berzlanovich: 1984 ist die Grundlage für die forensische DNA-Analyse gelegt worden, sodass schließlich Anfang der 90er Jahre die PCR-gestützte DNA-Technik an allen Instituten etabliert wurde. In der Toxikologie waren es Haaruntersuchungen auf Drogen und Gifte, die unsere Arbeit verändert haben.

Welches werden in den kommenden Jahren die großen Herausforderungen für die ihr Fach sein?

Berzlanovich: Es wird vor allem an einem verstärkten Einsatz von bildgebenden Verfahren vor der Obduktion gearbeitet. Röntgen wird ja bereits seit Jahrzehnten eingesetzt. Derzeit laufen Forschungsprojekte, die die Computertomographie in die Gerichtsmedizin implementieren sollen. Diese bildgebenden Verfahren können sehr positiv in der Gerichtsmedizin eingesetzt werden. Man kann Verletzungen nach verfolgen, ohne Gewebe zusätzlich zu beschädigen. Bisher kann man beispielsweise Einschuss und Ausschuss an der Leiche zwar gut beurteilen, man sieht aber ohne Obduktion halt nicht in den Körper rein. Wenn man jedoch den Schusskanal im CT darstellt kann man bei der Obduktion gezielter danach suchen und entsprechend präparieren. Die bildgebenden Verfahren werden die Obduktionen nicht ersetzen können, aber eine wertvolle Unterstützung könnten sie auf jeden Fall bieten.

Wie schaut denn einer ihrer typischen Arbeitstage aus:

Berzlanovich: In Österreich steht man als AnfängerIn viel im Seziersaal, macht bei Obduktionen mit, führt diese nach einiger Zeit auch selbst durch, diktiert Obduktionsprotokolle, befundet histologische Präparate und erstellt aufgrund der gesammelten Befunde Gutachten. Das ist ein großes Standbein. Das zweite ist die Untersuchung an lebenden Menschen. In Wien habe ich viele Verletzungsgutachten erstellt. Auch Haft- und Verhandlungsfähigkeiten habe ich beurteilt.
Hier in München untersuche ich sowohl Opfer als auch Beschuldigte. Dabei geht es in erster Linie um die Rekonstruktion der Geschehnisse und die etwaige Lebensgefährlichkeit der Verletzungen. Die Betroffenen werden dabei zu mir ans Institut gebracht oder ich besuche sie im Krankenhaus und schaue mir ihre Verletzungen an. Das gilt gleichfalls für Frauen und Kinder die vergewaltigt wurden oder andere Formen von Gewalt erlebt haben. Ich nehme auch Blut- oder Harnproben oder Haarproben ab, beispielsweise bei Leuten, die im Straßenverkehr auffällig geworden sind.

Nach einem „Nine to Five”-Job klingt das nicht:

Berzlanovich: Nein. Das bedeutet auch Nachtarbeit und Ad hoc-Dienste. In Deutschland muss der Gerichtsmediziner auch hirntote Menschen vor einer Organentnahme untersuchen. Wenn jemand verstirbt und seine Organe entnommen werden, muss ein Gerichtsmediziner dabei sein, weil der Staatsanwalt auf dem Standpunkt steht, dass man Betroffene vor der Explantation anschauen muss, da Verletzungen nach der Organentnahme nicht mehr sichtbar sein könnten. Dazu kommt dann noch die Lehre, die mir sehr viel Spass macht. In Österreich habe ich auch sehr gerne Schulungen gemacht, von Kriminalbeamten ebenso wie von Polizeijuristen, Pflegepersonal, Bestattern usw. Da ist ein 24 Stunden-Tag eh fast zu wenig. Die Forschung (forensische Geriatrie) findet immer am Wochenende und im Urlaub statt.

Welche Voraussetzungen sollte eine fertige Ärztin/ein fertiger Arzt für dieses Fachgebiet mitbringen?

Berzlanovich: Die Technik ist erlernbar. Ich bin nicht sehr groß und stark, eher zart gebaut, da braucht man gewisse Techniken. Wichtiger als die Technik ist allerdings die Liebe zum Fach: Wenn man keine Toten mag oder mit dem Tod nicht umgehen kann, wird man bald verzagen. Es gibt in unserem Fach natürlich auch kein Feedback von den Patienten. Niemand sagt: „Danke”, weil man einen erfolgreichen Eingriff oder eine Therapie vorgenommen hat und der Patient wieder gesund geworden ist. Auch damit muss man umgehen können.

Wie stellt sich die Ausbildungssituation für Frauen dar?

Berzlanovich: Ich würde sagen, es gibt die Hürden, die jede Frau auf der Uni zu bewältigen hat. Einem Mann geht es auch nicht gut in der Ausbildung, aber besser als Frauen. Ich bin eher gutwillig und gutmütig, kann schlecht nein sagen und bin deshalb immer wieder zu Arbeiten eingeteilt worden, die nicht zu meinem ureigensten Fachgebiet gehörten. Arbeitsberichte schreiben, Vorlesungsverzeichnisse erstellen. Ich bin schon härter geworden, vor allem zu mir selbst (lacht).

Wie ist die Ausbildungssituation derzeit?

Sehr schlecht. Zur Zeit gibt es in Wien einige Kollegen in Karenz. Meine Stelle ist für ein Jahr besetzt, weil ich nur für ein Jahr freigestellt bin. Und zwei weitere Kollegen sind für fünf Jahre karenziert. Ich habe gehört, dass die eine Stelle für vier Jahre ausgeschrieben ist. Aber eine Ausbildungsstelle ist nicht frei. Es sieht auch österreichweit schlecht aus. Es gibt Stellen nur dann, wenn jemand berufen wird, oder in Pension geht oder sich karenzieren lässt. Das gilt für Deutschland genauso. Es werden Institute in Deutschland zusammengelegt oder geschlossen, Stellen werden nicht nach besetzt. Alles eine Frage des Geldes.

Würden Sie Interessierten derzeit von der Gerichtsmedizin abraten?

Berzlanovich: Abraten würde ich niemanden, Wenn jemand überzeugt ist, dass sie/er das möchte, würde ich das jedenfalls unterstützen. Ich würde aber jeder/jedem raten, erstmal an der Gerichtsmedizin zu famulieren, sich die Arbeit und das Umfeld hier anzuschauen, kann man mit dem Tod umgehen, kann man jeden Tag rausgehen, ohne deprimiert zu sein? Es wird einem nichts geschenkt, man muss es sich erarbeiten. Ich habe wirklich den Willen gehabt und die Ausbildungssituation war schon zu meiner Zeit schlecht. Wenn man das will, dann schafft man es auch. Eiserner Wille gehört dazu, ein bisschen Glück auch. Man muss es eben versuchen.

Wie beurteilen Sie die beruflichen Chancen fertig ausgebildeter FachärztInnen für Gerichtsmedizin?

Berzlanovich: Gleichfalls schlecht. Als GerichtsmedizinerIn ist man auf die Uni beschränkt. Eine Stelle zu bekommen ist sehr schwierig. Hier in Deutschland gibt es einige private Institute, aber Stellenangebote sind sehr rar. Man muss Begeisterung für die Arbeit, Geduld und Power haben, reich wird man nicht. Es ist einfach die Liebe zum Fach.