Jugendliche Amokläufer: Schwer fassbares Phänomen

Richard Felsleitner

Richard Felsleitner

Geschieht ein „School Shooting”, wie zuletzt im deutschen Winnenden, sind die vermeintlichen Auslöser schnell gefunden: Gewaltspiele am PC, mangelnde Erziehungsfähigkeiten der Eltern oder Devianz der jugendlichen Täter.

Littleton (USA), Jokela und Kauhajoki (Finnland), Erfurt und Winnenden (Deutschland) – diese Städte haben traurige Berühmtheit erlangt, weil jugendliche Amokläufer an Schulen mehrere Dutzend Menschen getötet haben. Die Reaktion der Öffentlichkeit und der Politik auf derartige Ereignisse ist immer gleich: Entsetzen, Unverständnis und die Forderung, PC-Gewaltspiele zu verbieten, die Waffengesetze zu verschärfen, die mediale Berichterstattung einzudämmen und die Kontrollen an den Schulen zu verstärken.

Amokläufe haben allerdings – so die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung der vergangenen Jahre – niemals eine monokausale Ursache. Sie sind auch nicht das Resultat einer plötzlichen Überforderung, die in einen eruptiven Ausbruch „blinder” Gewalt mündet. Sie sind vielmehr über einen langen Zeitraum geplante Taten, die aus einer langen Phase der – wenn vielleicht auch nur selbst so empfundenen – Demütigung, Mobbing, seelischen und körperlichen Verletzungen des jugendlichen Täters durch MitschülerInnen aber auch Lehrpersonen und andere als Autoritäten empfundene Personen resultieren können.

Dabei ist – auch wenn die mediale Berichterstattung etwas Anderes suggeriert – der jugendliche Amoklauf ein sehr seltenes Phänomen. Die Wahrscheinlichkeit, bei einer solchen Attacke getötet zu werden, liegt bei ungefähr eins zu einer Million.1 Das Phänomen „School Shooting” einer zunehmend gewalttätigeren Jugend zuzuschreiben, ist ebenfalls eine falsche Annahme: „95 Prozent aller Jugendlichen sind nicht gewaltbereit”, sagte Dr. Anton Schmid, Wiener Kinder- und Jugendanwalt, im Rahmen einer Round-Table-Diskussion, die von Ärztewoche und der Gesellschaft der Ärzte organisiert wurde und am 30. März im Wiener Billrothhaus stattgefunden hat.

Dr. Anton Schmid

Dr. Anton Schmid

Schwierige Ursachenforschung
Die Ursachenforschung und daraus eventuell resultierende Präventionsfaktoren gestalten sich schwierig, weil die Täter nur in den seltensten Fällen nach ihrer Tat befragt werden können. 99 Prozent der jugendlichen Amokläufer suizidieren sich nach begangener Tat: „Unser Wissen über die Dynamik des Amoklaufs ist beklemmend gering”, meinte denn auch Prof. Dr. Ernst Berger, von der Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. „Wir sind auf oberflächliche Faktenbetrachtungen und retrospektive Analysen angewiesen”, so Berger.

Die Täter weisen nur wenige Gemeinsamkeiten auf. So existiert weder ein hervorstechendes ethnisches Profil, noch ein zwingender Zusammenhang zwischen der familiären Situation und Bereitschaft zu Gewalt. Gewaltspiele am PC, Gewaltdarstellungen in den Medien und der Zugang zu Waffen spielen eine Rolle – die wichtigsten Ursachen für jugendliche Amokläufe sind allerdings in den Tätern selbst zu suchen. Die bisher größte Studie zu „School Shootings” wurde 2004 vom US-Department of Education und vom United States Secret Service veröffentlicht.3 Die wesentlichen Ergebnisse: „Die meisten Gewalttäter hatten Probleme, mit größeren Verlusten (z. B. Schulabbrüchen oder -ausschlüssen) oder persönlichem Versagen fertig zu werden. Viele hatten einen Selbsttötungsversuch erwogen oder unternommen. Viele Gewalttäter fühlten sich vor der Tat von anderen schikaniert, gehänselt oder verletzt.

Verzweifelte Täter
Die auffälligsten Gemeinsamkeiten, die in der Initiative Sichere Schule erarbeitet worden waren, hat Lukas Pawlik in einem Artikel für die Zeitschrift „Pädiatrie und Pädologie zusammengefasst, der 2008 publiziert wurde. So hatten etwa 68 Prozent der Täter eine dokumentierte Geschichte schwerer Depressionen oder Verzweiflung. 71 Prozent der Täter fühlten sich gemobbt, bedroht oder verfolgt und 78 Prozent hatten bereits Suizidgedanken oder Suizidversuche unternommen. Die Attentäter sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Knaben oder junge Männer zwischen 11 und 21 Jahren.

„Diese jungen Menschen sind in einer wichtigen Phase ihres Lebens, sie suchen nach ihrer Rolle”, erläuterte Ernst Berger. „Schaffen Sie den Kontakt zu anderen nicht, verringert sich ihr Selbstwertgefühl – sie ziehen sich immer mehr zurück.” Auch Kinder- und Jugendanwalt Anton Schmid sieht den jugendlichen Amoklauf als „Verzweiflungstat. Diese jungen Menschen haben mit ihrem Leben abgeschlossen”, so Schmid: Das Gefühl des Ausgeschlossen seins kann schon in der frühen Kindheit anfangen. Setzt es sich über die Zeit der Pubertät fort, bekommt der Jugendliche das Gefühl, er sei wertlos, ungewollt und allein.

Nähe, Zuwendung und Wertschätzung sind die Faktoren, die jungen Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, wieder zu mehr Selbstwertgefühl verhelfen können. „Diese Jugendlichen brauchen Nähe und Zuwendung”, sagte Richard Felsleitner, Bezirksschulinspektor für die sechs sonderpädagogischen Zentren für körper- und sinnesbehinderte Kinder, für das Sonderpädagogische Zentrum Heilstättenschule und für die acht sonderpädagogischen Zentren für sozial und emotional benachteiligte Kinder in Wien.

Schulen sind – so der Kurier-Schüleranwalt Andreas Salcher in der Sendung Radiodoktor vom 30. März 2009 – nicht Ursachen von jugendlichen Amokläufen, sie können aber die Auslöser derartiger Taten sein. Um so wichtiger ist die Rolle von Schule und Lehrern in der Prävention. „Lehrer sind aufgerufen, besonders genau hinzuschauen”, fordert Richard Felsleitner, um gleich darauf einzuschränken: „Das ist bei Klassen mit 25 bis 30 SchülerInnen natürlich nicht einfach.” Umso wichtiger sei die Unterstützung der SchülerInnen und LehrerInnen durch ausgebildete Psychagogen: „Allein in Wien sind 300 psychagogisch ausgebildete Lehrer tätig”, so Felsleitner: „2008 haben 7.000 Kinder dieses Angebot in Anspruch genommen.” Das Angebot reicht dabei von kurzfristiger Krisenintervention bis hin zu mehrjähriger Betreuung der SchülerInnen.

Das Schulsystem an sich kritisiert der Wiener Kinder- und Jugendanwalt Anton Schmid: „Das kompetitive Schulsystem stellt das Ziel in den Mittelpunkt und nicht das Kind”, formulierte er pointiert. „Nicht du selbst bist wichtig, sondern das Ziel, das du erreichen sollst.” Schmid sieht das Problem zudem in einer immer größer werdenden sozialen Kälte und der zunehmenden Dominanz der „Ellbogengesellschaft”, die letztlich zu Isolation und Einsamkeit führen.


Diese Faktoren und die geringe Kenntnis über jene Personen, die letztlich zu jugendlichen Amokläufern werden, erschweren die Prävention, verunmöglichen sie aber nicht. Denn es gibt Symptome, die im Vorfeld erkannt und bearbeitet werden können. Darüber waren sich die Experten des Roundtable-Gespräches einig: „Es gibt Warnzeichen bei den jungen Menschen”, sagte etwa Kinderpsychiater Ernst Berger. Dazu gehören etwa sozialer Rückzug, auch Schule schwänzen ist ein Warnzeichen. Damit ist allerdings keineswegs gesagt, dass jeder stille Jugendliche, der Sozialkontakte meidet und sich zurück zieht, zum Amokläufer wird: „Rechtzeitige Hilfe kann nicht als Prävention vor Amokläufen gesehen werden”, sagt auch Ernst Berger: „Aber es ist Gewalt-Prävention.”

  1. Lange Vorlaufzeit
    Amokläufe passieren nicht über Nacht. Sie laufen in Phasen ab. Meist geht dem Geschehen jahrelange intensive Beschäftigung mit dem Thema vor. In einem Artikel zu diesem Thema unterscheidet der deutsche Psychiater Dr. Volker Faust vier Phasen:
    1. Vorstadium: Es finden sich Milieu-Schwierigkeiten, Demütigungen, Kränkungen und Beleidigungen. Menschen mit einer entsprechenden Konstitution weisen keine adäquaten Bewältigungsstrategien für derartige Situationen auf.
    2. Akute Belastungen körperlicher, seelischer oder psychosozialer Art bekommen eine verheerende Bedeutung, der zu einem nur noch knapp kompensierten Spannungszustand führt.
    3. Der Jugendliche zieht sich immer mehr zurück, isoliert sich und phantasiert Gewaltszenarien, in deren Mittelpunkt er selbst als „Held” steht. Diese Phantasien schaukeln sich immer mehr auf. Die Tat wird immer konkreter.
    4. Oft reicht dann ein für sich gesehen belangloser Vorfall, der zur Tat führt, die – in der überwiegenden Anzahl der Fälle – mit dem Suizid des Täters endet.

Mit Kindern reden!
Jugendliche Amokläufer beschäftigen sich also meist über einen sehr langen Zeitraum in ihrer Phantasie mit ihrer Tat. „Jemandem gedanklich Schaden zu zu fügen, ist aber noch kein Amoklauf”, so Ernst Berger: „Um dieses Kippen in die Gewalt zu verhindern, braucht es jemanden, der zuhört, die Möglichkeit, über diese Phantasien zu sprechen.” Die zunehmende Isolation der jungen Täter, aber auch das Allein gelassen werden von Eltern, LehrerInnen und FreundInnen verhindern dieses „Auffangen”. Der Konsum von Gewaltspielen am PC, von gewalttätigen Filmen oder Büchern kann dann – in der Zusammenschau mit den bereits beschriebenen Problemen, im Vorfeld eines Amoklaufs eine Rolle spielen. Auslöser für einen Amoklauf sind sie nicht: „Zwischen Gewalt-PC-Spielen und Amokläufen einen direkten Zusammenhang herzustellen, ist Blödsinn”, ärgert sich Kinder- und Jugendanwalt Anton Schmid. Nicht das Spiel, nicht die Gewaltdarstellungen in den Medien, sondern die mangelnde Kommunikation darüber, seien das Problem: „Eltern sollten mit ihren Kindern über das in den Medien gesehene und die PC-Spiele, die ihre Kinder spielen, diskutieren und sie nicht damit allein lassen”, hielt Kinderpsychiater Ernst Berger fest.

Den Zugang zu Waffen halten dagegen alle Experten des Roundtables für extrem problematisch. Eines der Ergebnisse der bereits zitierten Initiative Sichere Schule war die Tatsache, dass die meisten Attentäter Zugang zu Waffen hatten und diese bereits vor ihrer Tat benutzt hatten. „Waffen haben in einem Haushalt nichts verloren”, sagte Ernst Berger und erntete dafür Zustimmung von seinen Diskussionspartnern: „Wenn keine Waffen vorhanden sind, kann auch niemand damit erschossen werden”, so Berger pointiert.

Abschließend forderte der Kinderpsychiater: „Jugendliche brauchen Unterstützungsmöglichkeiten, wir müssen sie ernst nehmen und ihnen – wo nötig – professionelle Hilfe anbieten.” Schulinspektor Richard Felsleitner spricht sich für die Beibehaltung von Präventionsprogrammen aus, und wünscht sich für die Schulen: „Maßnahmen, die das Miteinander verbessern.” Und Kinder- und Jugendanwalt Anton Schmid spricht sich für eine nationale Anstrengung aus, die Eltern erlaubt, die ersten drei Lebensjahre ihres Kindes zu Hause verbringen zu können, denn „Bindungsstörungen beginnen früh!”

1 Pawlik L. „School Shootings” Rückblick auf die Grundlagen und die Möglichkeiten der Prävention. Pädiatrie & Pädologie, 6/2008. Seite 27

2 Round Table Diskussion: „Ursachen und Auslöser für Amokläufe von Jugendlichen – Warnsignale und Präventionsstrategien.
Gemeinsame Veranstaltung von Ärztewoche und Gesellschaft der Ärzte am 30. März 2009.
Gästen:
Univ.-Prof. Dr. Ernst Berger, Abteilung für Jugendpsychiatrie des Psychosozialen Dienstes, Arbeitsgruppe Rehabilitation/Integration. Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, AKH Wien
Dr. Anton Schmid, Wiener Kinder- und Jugendanwalt
Richard Felsleitner, Schulaufsichtsbeamter am Stadtschulrat für Wien, Bezirksschulinspektor
Die Kernaussagen der Diskussionsgäste sind unter www.springermedonline.at zu sehen und zu hören.

3 United States Secredt Service and United States Department of Education (2004). The final Report and Findings of the Safe School Inititative: Implications of

Univ.-Prof. Dr. Ernst Berger

Univ.-Prof. Dr. Ernst Berger

School Attacks in the United States. Washington D.C.

4 Volker Faust: “Amok” gekürzt und zusammengefasst.

5 http://www.gemeinsam-gegen-gewalt.at/de/pages/die%20wei%DFe%20feder.php?lng=de&m=1&s=0
Die „Weiße Feder” ist das Zeichen gegen Jugendgewalt. Informationen dazu finden sich auf der oben genannten Website.