Der Frühling ist da. In den Geschäften hängt die neueste, bunte Frühjahrs- und Sommermode. Was für ein wunderbarer Anlass, sich mit neuen Kleidern einzudecken. Auf zum Einkaufsbummel in der Wiener Mariahilfer Straße. Da hängen sie: Kleider, Röcke, T-Shirts, Blusen, alles leicht und luftig, alles in bunten Farben. Ich betrete das erste Geschäft.
Niemand grüßt. Gut. Ich will ja schließlich keine Konversation betreiben, sondern Kleider kaufen und die kann ich mir auch allein aussuchen. Ich suche, ich werde fündig. Ich betrete die Umkleidekabine, die klaustrophobisch klein und schmal ist. Der Vorhang vor der Tür schließt nicht richtig und im Spiegel sehe ich aus wie etwas, dass der Hund von draußen hereingeschleppt hat.
Egal: Mein Ego begehrt bunte neue Sommermode, und dieser Wunsch soll ihm erfüllt werden. Als ich mich endlich in das T-Shirt, dass ich mir ausgesucht habe, hineingezwängt habe und einen Blick in den Spiegel werfe, überkommt mich der Impuls, das Teil sofort wieder auszuziehen: Jedes noch so kleine Fettpölsterchen malt sich aufs Plastischste ab – wunderschön! Nein. So will ich mich nicht sehen.
Frau ahnt, was kommt: Egal, was ich probiere, es scheint für etwa zehnjährige Mädchen gemacht zu sein. Ich verlasse das Geschäft und gebe nach dem fünften Laden auf.
Ich stelle fest: Wenn ich in die T-Shirts, Blusen und Pullover der aktuellen Kollektion passen will, muss ich entweder schrumpfen – oder wachsen: Denn gemacht ist die aktuelle Mode für Frauen, die mindestens 175 cm groß sind und maximal 45 kg wiegen.
Für alle anderen Frauen gilt: Pech gehabt. Die figurbetonte Kollektion Sommer 2006 sorgt dafür, dass nicht nur jedes winzigste Fettpölsterchen zu sehen ist. Auch in der Länge wurde mit Stoff gespart: Zumindest bei T-Shirts, Blusen und Pullovern: Die sind so kurz, dass frau, sobald sie sich setzt, nicht nur ihre untere Rückenpartie unfreiwillig entblößt, als zusätzlichen Bonus handelt sie sich auch noch eine chronische Eierstock- oder Nierenbeckenentzündung ein.
Aber: Nicht alles ist kurz. Bei Hosen haben sich die SchneiderInnen der Sommermode 2006 etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Alle Hosen sind jetzt länger. Warum fragen Sie? Diese Frage habe ich: klein und mager und daher in Grösse 34 passend, der Verkäuferin in jener Boutique gestellt, in der ich fünf Hosen probierte. Die Hosen passten – abgesehen von der Länge – alle Hosen waren etwa 20 cm zu lang. Nachdem ich mir die Frage: „Bin ich etwa geschrumpft?” mit einem glatten „Nein.” beantwortet hatte, wandte ich mich an die freundliche Verkäuferin des Ladens.
„Ich habe den Eindruck, dass seit einiger Zeit bei den kleinen Größen die Hosenbeine sehr lang sind?” stellte ich fragend fest. „Ja. Das wird jetzt allgemein so gemacht”, antwortete sie mir eher nichtssagend. „Aha”, sagte ich „und warum?” Die Antwort der freundlichen Dame lautete etwa dahingehend, dass immer mehr Frauen über 170 in den Laden kämen und Hosen in Größe 34 zu kaufen begehrten. „Und die waren den Damen eben bisher immer zu kurz.” Wieder die Verkäuferin.
„Ah ja”, meinte ich. Sprachs und verließ das Geschäft in Gedanken versunken. Also: mit 55 kg auf 165 cm ist frau heute also bereits mit einer Größe von 165 cm und 55 kg entweder übergewichtig oder untergroß. Und 170 cm große Frauen, die in Größe 34 passen, sind nicht etwa untergewichtig oder gar magersüchtig, sondern schlank und schön, weshalb sich die Modeindustrie dementsprechend auf diese Kundenschicht eingestellt hat.
Wie nett! Ich kaufte mir nichts mehr zum Anziehen an diesem Tag. Stattdessen gab ich mein Geld für vier neue Bücher aus, holte mir ein Eis und verbrachte den Nachmittag mit Lesen. Wer braucht schon neue Kleider?